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Kipppunkte

Auszug aus der Festrede zur 150-Jahres-Feier der Universität für Bodenkultur Wien

Langsam sollten wir als Menschen das verinnerlicht haben: Dinge, die ins Rutschen geraten, sind dann irgendwann erstaunlich oft wirklich weg, über die Kante geglitten, abgestürzt und aus dem Blick geraten. Von einem Moment auf den anderen passiert das, und dieser Zwischenraum, dieser auf seltsame Weise eingefrorene Augenblick, an dem das Entscheidende passiert, ist ein Kipppunkt: er markiert die Grenze, ab der es kein Zurück mehr gibt. Points of no return, wie sie den Ereignishorizont um ein Schwarzes Loch bilden, eine astronomische Singularität, die alles Licht und alle Materie aufsaugt, die ihr zu nahe kommen.

Zuerst hält man dieses Ding noch mit drei Fingern, dann mit zwei, schafft einen Zangengriff mithilfe des Daumens, glaubt für ein paar Sekunden, die Bewegung zumindest stabilisieren zu können, den Status Quo zu halten, aber leider, leider ist der Schwerpunkt schon zu tief unten, muss man schließlich einsehen, dass die Sache entgleitet, und kann nur noch hoffen, dass sie bis zum Aufprall nicht mehr ausreichend beschleunigt wird, als dass das Gefüge völlig zerstört würde. Natürlich gibt es immer Stimmen, die meinen, man könne den Vorgang, da er nun einmal nicht mehr zu bremsen sei, wenigstens zum eigenen Vorteil nutzen, nutzbringend vermarkten, zumindest entsteht ja so etwas wie Reibungswärme, und Wärme ist Energie, Energie ist Geld.

Menschen scheinen auch durchaus im Stande zu sein, solche Bewegungsabläufe zu erkennen, zu beschreiben, als systematisch zu verstehen und ihren zukünftigen Verlauf vorherzusagen – ein Problem haben wir allerdings damit, diesen Entwicklungen entgegen zu steuern. Nun ist naturgemäß nicht jede Entwicklung eine zum Schlechteren hin. Angesichts des Ausbeutungsgrades unserer Biosphäre durch die Hochleistungsökonomie und den immer gravierender werdenden Umweltfolgen muss jedoch konstatiert werden, dass es viele Entwicklungen gibt, die nicht nur dem Überleben bestimmter Ökosysteme etwa entgegenstehen, sondern dem eines stabilen Erdklimas insgesamt und damit eines Großteils des Lebens auf der Erde, nicht zuletzt des menschlichen. Denkbar ist allerdings auch, dass sich die Menschheit zwar selbst um die eigene Lebensgrundlage bringt, dass aber Leben in anderer Form eine Klimakatastrophe durchaus überstehen und ohne menschliche Dauereingriffe vielleicht sogar prosperieren würde … Oder, wie eine Klimawissenschaftlerin zu mir sagte: Um die Erde mache ich mir keine Sorgen, die überlebt das.

Die Jugendsicherheit, die mich als Kind des kalten Krieges in meinem Erwachsenwerden begleitete, dass nämlich alles immer besser werden würde, dass man hoffen könne auf die Entwicklung hin zu einer demokratischeren, friedlicheren Welt, die Umwandlung der Gesellschaften hin zu partizipativeren, integrativeren und gleichberechtigteren, ja, sogar die Einsicht in die Umweltzerstörung und die Umorientierung in Richtung nachhaltigeren Wirtschaftens, hat sich offensichtlich aufgehört, legte ab den mittleren Neunzigerjahren, in diesem Jahrtausend abrupt eine Bauchlandung nach der anderen hin. Man konnte in Europa auch hoffen auf eine Demokratisierung Russlands – und mich rührte es damals sehr, als die finnische Band „Leningrad Cowboys“ sich ihren Herzenswunsch erfüllte und in ihrer „Total Balalaika Show“ mit dem Red Army Choir gemeinsam schreckliche amerikanische und russische Schnulzen sang, bezeichnenderweise den Song „Those were the days“, der fortgeführt wird mit der hoffnungsvollen Zeile „we thought they’d never end“. Nun, das taten sie sehr rasch und sehr entschieden. Und der Begriff des Totalen, der sich in den Titel geschlichen hatte, war sicher eine mehrfache ironische Aufdopplung von Realität, die in den heutigen Totalitarismen nachwirkt. Der Begriff „Wandel durch Handel“ war ebenfalls nicht per se verwerflich, wenn er allerdings schon das brutale Gesicht des Kapitalismus in sich trug, dessen zentrale Proponent:innen wie auch die Politik und breite Teile der Öffentlichkeit sich den Abbau der eben erworbenen demokratischen Strukturen im größten Sowjetnachfolgestaat schönredeten.

Und irgendwann in diesem langen Prozess des Wegsehens und Hinwirtschaftens muss es wohl auch einen Punkt gegeben haben, jenseits dessen der Machtwille des russischen Präsidenten nicht mehr zu stoppen war, ebenso wenig das, was er aus einem imperialistischen Impuls heraus bereit war zu tun, einem Impuls, der irgendwo zwischen Iwan dem Schrecklichen und Stalin angesiedelt war, wie das Vladimir Sorokin in seinem hellsichtigen Buch „Der Tag des Opritschniks“ schon 2006 beschrieb: ein Kipppunkt der Weltgeschichte hin zum großflächigen Angriffskrieg wurde überschritten.

Nicht nur dieser Krieg also, besonders auch die immer krasseren Folgen des scheinbar unbremsbaren ökonomischen Wachstumsgebots für alles Leben auf der Erde, nicht nur der Backlash gegen den Feminismus – durch den Krieg sowieso, aber auch durch Versuche in vielen Staaten, das Recht auf Zugang zu Abtreibung einzuschränken und überhaupt in vielfältiger Weise die Kontrolle über weibliche Körper zu erlangen – und alles, was heute „woke“ genannt wird und was doch eigentlich nur die Einfühlung und den Respekt gegenüber vielfältigen Lebens- und Identifikationsformen zum Ziel hat, nicht nur die nicht enden wollenden pandemischen Varianten, nein, nichts einzelnes des Genannten, doch alles zusammen führt zu einem Lebensgefühl der permanenten Überforderung. Das Gefährliche an diesem Gefühl ist, dass es leicht ist, darüber die Handlungsfähigkeit zu verlieren. Handlungsfähigkeit, die es doch ganz bestimmt braucht, um dem Klimawandel entgegen zu treten, der wohl das wirkmächtigste aller Probleme der Menschheit ist – sofern sie sich nicht rechtzeitig selbst ausrottet, denn auch das würde dem menschengemachten Klimawandel eindeutig ein Ende bereiten.

Was allen diesen krisenhaften Entwicklungen, zumindest in der retrospektiven Aufarbeitung, so sie denn noch möglich ist und sein wird, eignet, ist die immer deutlicher an die Oberfläche drängende Ahnung, dass man wissen hätte können und müssen, wo die points of no return waren, die einen Ereignishorizont konstituieren, ab dessen Überquerung keine Rückkehr mehr möglich ist.

Was bedeutet nun: das Kippen eines Systems? Das Kippen beschreibt den Übergang eines (labilen) Systems in einen anderen Zustand, von dem die Rückkehr in den Ursprungszustand nicht mehr möglich ist. Ein Beispiel: Stellen Sie sich einen gasgefüllten Ballon vor, stechen Sie ihn auf, der Ballon wird platzen. Die Gasmoleküle im Ballon werden ausströmen und sich mit den Umgebungsluftmolekülen vermischen. Es ist nicht mehr möglich, sie in den Raum, der einst von der Ballonhülle umschlossen war, zurückzudrängen. Um den erwähnten Grundzustand – ein bestimmtes Gas befindet sich nur in dem kleinen Teil des Raums, den der Ballon markiert – wieder herzustellen, müsste das Gas aus dem Luftraum wieder extrahiert werden, zum Beispiel, indem man den Raum extrem abkühlt, bis die Gase kondensieren. Dann müsste man die Hülle flicken, das Gas wieder auf Raumtemperatur bringen und in den Ballon füllen. Das bedarf enorm vieler Energie und menschlicher Arbeit – also wiederum Energie, wird aber den vorherigen Zustand: den unversehrten, gefüllten Ballon, nur mehr annähernd erreichen. Der Kipppunkt hierbei ist also das Platzen des Ballons.

Kippelemente haben Kipppunkte, Kennwerte, die nicht überschritten werden dürfen, ab denen die Rückkehr nicht mehr möglich ist. Wie exakt die jeweiligen Grenzwerte für die verschiedenen Systeme definierbar sind, mag zwar noch strittig sein, unstrittig ist, dass es Kipppunkte gibt. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass das Kippen von Kippelementen weiteres Kippen triggert, etwa wie bei einem Kartenhaus, einer Reihe von Dominosteinen oder, noch reizvoller, bei einer Rube-Goldberg-Maschine, einem Nonsense-Spielzeug für Erwachsene, dessen einziger Sinn im Erzeugen einer präzisen Choreographie aus Kettenreaktionen besteht. Ballons bieten sich für die Konstruktion interessanter Effekte dabei übrigens durchaus an.

Im Fall der Erde sind Kippelemente, bei denen Kippeffekte auftreten könnten und teilweise auch bereits aufgetreten sind, vielfältig und der Kippvorgang weniger erfreulich. Im Folgenden werden nur einige wenige aufgezählt: tropische Korallenriffe, die unwiederbringlich absterben, Polarkappen, die abschmelzen und den Meereswasserstand erhöhen, die thermohaline Zirkulation – also die Strömung, die den Dichte-, Salzgehalts- und Temperaturunterschied in verschiedenen Meeresgebieten ausgleicht – des Nordatlantiks. Eine Störung des letzteren Systems hin zu einer Veränderung des Golfstroms hätte unabsehbare Folgen für große Teile der europäischen Landmasse. Jetstreams, die Luftmassen des Nordens und Südens von den dazwischen liegenden trennen und die eigentlich Hoch- und Tiefdruckgebiete rund um den Erdball schieben. Allerdings graben sie sich derzeit immer weiter ein und bauen damit längerfristig stehende Wellen in der Atmosphäre auf, die für das lange Anhalten von Hoch- und Tiefdruckgebieten auf der Nordhalbkugel verantwortlich sind, was wiederum zu gehäuften Starkregen- oder staubtrockenen Hitzeperioden mit dem damit einhergehenden Absinken des Grundwasserpegels Anlass gibt. Ohnehin wirkt schon die erhöhte Wasserkonzentration in der Atmosphäre, die mit der Temperaturerhöhung korreliert, als treibendes Element für Extremwetterereignisse wie heftige Winde und Starkregen. Die Reduktion der Biodiversität schwächt empfindliche Ökosysteme noch weiter: die Fähigkeit, Störungen auszugleichen, die Resilienz also, sinkt mit abnehmender Artenvielfalt. Eine Häufung dieser Ereignisse würde bedeuten, dass weite Landstriche unbewohnbar werden können und Menschen fliehen müssen.

Das Abschmelzen des Grönlandeises ebenso wie das der Polarkappen hat aufgrund der frei werdenden dunkleren Land- bzw. Wasseroberflächen einen selbstverstärkenden Effekt, Eis reflektiert das Sonnenlicht, Meerwasser und Erdboden absorbieren Strahlung in wesentlich höherem Maße. Dieser Schmelzprozess ebenso wie die thermische Ausdehnung des Wassers – je wärmer, desto größer das Volumen – hat nicht nur den Anstieg des Meeresspiegels zur Folge, sondern auch Auswirkungen auf die Schiffbarkeit des Polarmeeres, und hier gerät wieder der Mensch ins Spiel: der Wettlauf um die Ausbeutung arktischer submariner Vorkommen fossiler Brennstoffe hat längst begonnen. Unangefochten von jeder Einsicht und den deklarierten Klimazielen der Regierungen werden von den Global Players der Branche munter weiter sogenannte „carbon-bombs“ geplant, Öl- und Gasextraktionsvorhaben, von denen jedes über eine Milliarde Tonnen CO2 erzeugen würde. Die Troposphäre erhitzt sich, die Stratosphäre kühlt ab und die dazwischen liegende Tropopause wandert nach außen, man weiß nicht, welche Auswirkungen das auf das dynamische Geschehen in der Atmosphäre haben wird, aber so viel ist sicher: es bleibt spannend.

Das wirklich Fatale scheint dabei zu sein, dass die Triggerung gewisser Kipppunkte zu einem weiteren Temperaturanstieg führt, der das Weltklima wiederum neue Kipppunkte überschreiten lässt: Das Auftauen des Permafrosts etwa oder die Vernichtung des Amazonas-Regenwaldes würden große Mengen von CO2 freisetzen, die wieder eine weitere Erhitzung der Atmosphäre zur Folge hätten. Ein Teufelskreis: das Kippen von Kippelementen triggert weiteres Kippen.

Aus diesem Grund, weil die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5° Celsius – pessimistischere Interpretationen halten nur mehr ein 2°-Ziel für realisierbar – nach derzeitigem Wissensstand gerade noch davor schützen würde, dass bekannte Formationen, auf denen die Verhältnisse bereits gewaltig ins Rutschen gekommen sind, ihren Kipppunkt überschreiten, ist ein Aufhalten der globalen Erwärmung so wesentlich für das Überleben von Leben, wie wir es kennen. Denn, wie gesagt: Die Erde hält es aus. Unsere Spezies eher nicht.

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