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Reflexionen über das Werk Ruth Klügers

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Reflexionen zum Werk Ruth Klügers

„Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist, ähnlich wie bei Vergewaltigungen, die am einfachsten durch Hinrichtung oder Selbstmord des Opfers gesühnt werden, vormals im Abendland und auch heute noch in vielen Teilen der Welt.“

Nicht nur als Wissenschaftlerin war Ruth Klüger streitbar. Bei der – sehr flüchtigen – persönlichen Begegnung erschien sie mir hingegen sehr zurückhaltend, jedenfalls sehr bei sich, auf der Hut wohl vor dem vereinnahmt-Werden. Das öffentliche Aufkündigen ihrer Freundschaft mit Martin Walser etwa über dessen auf Marcel-Reich-Ranicki gemünztes, von ihr als antisemitisch gewertetes und meiner Erinnerung nach auch sehr mittelmäßiges Buch „Tod eines Kritikers“ ist nur eines von zahlreichen Beispielen. Schon bei der Lektüre des damals online verfügbaren Werks fragte ich mich, wie man nur auf die Idee kommen könne, sich an einer Feindschaft in nur mangelhaft verschleierter Form abarbeiten zu wollen, das dann für Literatur zu halten und dann auch noch blind zu sein für alle antisemitischen Klischees, die man bedient. Unnötig zu sagen, dass ich sowohl mit der Figur des Großschriftstellers als auch mit der des Großkritikers meine Probleme hatte und habe. Zuviel Größe, zu viel Platzbehauptung, zu viel Welterklärung, vom genialischen Gehabe ganz abgesehen, und, ja, ein ziemlich männliches Platzhirschen-Phänomen. Man stelle sich vor, eine bekannte Schriftstellerin würde über eine Kritikerin einen Schlüsselroman schreiben, um sich für einen Verriss zu rächen …

Viele von Ruth Klügers oft recht apodiktisch formulierten Beobachtungen scheinen mir außerordentlich treffend zu sein, etwa diese, eine Ergänzung zur vorangestellten Beobachtung zum Thema der Vergewaltigung, deren Makel erst aus der Welt geschaffen wird, wenn das Opfer vernichtet wird:

„Über einen Gewaltakt, der „Schändung“ heißt, schweigt man am besten. Die Sprache dient den Männern, indem sie die Scham des Opfers in den Dienst des Täters stellt.“

Mich hat der Begriff „Schändung“, der auch im allseits beliebten Begriff des „Kinderschänders“ steckt, immer empört: Er impliziert, dass eine wie immer geartete „Schande“ am Opfer kleben bleibt. Warum sollte dem so sein? Aus historisch gewachsenen patriarchalen Gründen, wie Ruth Klüger ausführt, wenn sie schreibt: „Dem Onkel hat man leider die Tante vergewaltigt.“ Und später: „Recht ist ihm geschehen“. Aus einer Wahrnehmung, die impliziert, dass die Tante dem Onkel gehört und nicht ihr etwas angetan wurde, sondern ihm, indem man seinen Besitz beschädigt und sie ein bisschen kaputt gemacht hat. Warum sollte man oder frau das akzeptieren? Scham über die Tat sollte einzig der/die Schuldige empfinden, egal, um welchen Gewaltakt es sich handelt. Eine österreichische Turnlehrerin sagte einmal zu mir, als ich einsam – weil durch menstruationsbedingten Ausfall verspätet – eine Schwimmprüfung ablegte: „Du säufst mir ja gleich ab!“, das war als pädagogische Aufmunterung zu lesen und verwunderte mich zutiefst, denn absaufen konnte ich meiner Meinung nach nur mir und ganz für mich alleine.

Aus Daniela Strigls Rede anlässlich der Verleihung des Paul-Watzlawick-Ehrenrings entnehme ich den Hinweis darauf, dass die Geehrte schon als Kind über Schillers Zeilen stolperte: „Alle Menschen werden Brüder“ und „Wem der große Wurf gelungen eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen mische seinen Jubel ein“, was sie zur Folgerung führte, dass sie kein Mensch sein könne, nur eines Menschen Weib. Diese Schlussfolgerung kommt mir sehr bekannt vor, mir waren diese Zeilen ebenfalls schon in sehr jungen Jahren unangenehm aufgestoßen, noch dazu der Umstand, dass „Freundschaft“ anscheinend etwas rein männliches war, wohingegen die Frau „errungen“ werden musste, in welcher Schlacht, ein Wort, in dem das Schlachten immanent ist, war mir noch nicht ganz klar, und warum sie nicht selbst erringen durfte, auch nicht, zudem musste sie zu dem Zweck „hold“ sein, ein Kriterium, das ich, als Jugendliche von heftiger Akne geplagt und übel darüber gemobbt, sicherlich nicht erfüllte. Doch der zentrale Punkt war und blieb der von Ruth Klüger angesprochene: das Menschsein wurde von Schiller auf das Mannsein reduziert, und Frauen waren ausdrücklich nicht mitgemeint. Sie handelten nicht, sie wurden behandelt. Immer häufiger verstand ich danach, dass das angebliche „Mitmeinen“, mit der die mangelnde Zuschreibung von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit an Frauen euphemistisch bezeichnet wurde – wie man heute sagten würde: das mangelnde Gendern -, wider diese Behauptung im allgemeinen auf eine Geisteshaltung hinweist, in der Frauen die Ausnahme sind und Männer der Regelfall. Dass das in allen möglichen Hierarchien dazu führt, dass Gleiche Gleiche fördern, nicht nur Weiße Weiße und Rotarier Rotarier, sondern eben auch und gerade Männer Männer, war wiederum ein Prinzip, das mir sehr schlüssig erschien: man oder frau geht eben gerne von der eigenen Geschlechtsdefinition, Sozialisation, Hautfarbe als dem Normfall aus, das ist menschlich. Mir selbst war Ähnliches passiert, als ich anhand des deutschen Titels von Simone de Beauvoirs „Anderem Geschlecht“ – das im Französischen übrigens das eindeutigere „zweite“ Geschlecht ist, schlussfolgerte, es müsse sich um eine Buch über Männer handeln, denn die waren für mich – und logischerweise auch für die Autorin, meinte ich – automatisch das Andere, das interessierte mich, da es mir ein gewisses Rätsel aufgab. Erst während der Lektüre begriff ich, dass es um den Ausschluss aus der Gesellschaft auf ihren angestammten Vorrechten beharrender Gleichförmiger ging, einen Prozess, den man heute als Othering beschreibt. Um Inklusion hingegen muss immer wieder gerungen werden, das ist nun endlich ein Feld, wo mir der Begriff des Ringens passend erscheint. Das instinktive Übertragen der Vorstellung vom Eigenen auf eine vermeintliche Norm mag, wie gesagt, ein nur allzu menschlicher Zug sein, es nicht zu hinterfragen oder die Hinterfragung sogar bewusst zu torpedieren ist allerdings eine klar antiaufklärerische Verweigerungshaltung, und zwar eine mit weltanschaulichem Programm.

Anlässlich einer Rede zu Heinrich Heine schreibt Ruth Klüger, die zu dem Zeitpunkt zumindest teilweise in Deutschland, nämlich in Göttingen lebende Holocaustüberlebende über Antisemitismus:

„So wie viele Juden, damals und heute, unterschätzte er das Ressentiment, das seine Schriften oft hervorriefen, und sah sich andererseits bitter verfolgt, wo der Anlass eher gering war. Das ist nicht weiter verwunderlich. Diskriminierung ist eine üble Sache, stärkt weder Seele noch Verstand und ist nicht dazu angetan, die Unterscheidungskraft und das vernünftige Wahrnehmungsvermögen des Menschen auf Hochglanz zu polieren.

… der Judenhass vieler Romantiker war ihm natürlich vertraut. … Heine sieht in der neueren deutschen Literatur eine Rückwendung von dem Humanismus der Aufklärung und der Klassik, und er verbindet diese Rückwendung mit dem Wiederaufleben christlicher Frömmigkeit. Wenn man den heutigen Fundamentalismus aller drei biblischen Religionen denkt, so muss man ihm Recht geben.“

Nach der „Modifikation“ des preußischen Edikts von 1812, das Juden die Staatsbürgerschaft zugesichert hatte, im Jahr 1822 war Heinrich Heine die Möglichkeit einer akademischen Karriere in Deutschland verschlossen. Heinrich Heine war ein spöttischer Kritiker nicht nur des Katholizismus und des konservativen Judentums, oder, wie Ruth Klüger schreibt:

„Nazarener und Hellenen, Spiritualismus und Sensualismus, das sind die Pole, zwischen denen er die Seile seiner Dialektik spannt. Wie bekannt, huldigt er vor allem dem Sensualismus, schlägt sich auf die Seite der Griechen, die er gegen die repressive jüdisch-christliche Tradition ausspielt, die sich in neuerer Zeit in Form der katholischen Kirche zu allem anderen Übel noch mit den Kräften der Reaktion gepaart habe.“

So konstatiert Heinrich Heine die unheilige Vereinigung von deutschem Patriotismus, Romantik, Volkstümlichkeit und Christentum:

„Als endlich der deutsche Patriotismus und die deutsche Nationalität vollständig siegte, triumphirte auch definitiv die volkstümlich germanisch christlich romantische Schule, die ‚neudeutsch-religiös-patriotische Kunst‘.“

Auch und besonders war er, der vom „nichtgläubigen Juden zum nichtgläubigen Christen“ wurde, ein Gegner des preußischen, protestantisch geprägten Militarismus, so schrieb er im französischen Exil, in dem er seit 1831 lebte und das durch die Publikationsverbote erst recht zu einem solchen wurde, in „Deutschland, ein Wintermärchen“ 1844:

„Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.

Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie,
Sie tragen sie jetzt im Innern;
Das trauliche Du wird immer noch
An das alte Er erinnere.

Der lange Schnurrbart ist eigentlich nur
Des Zopftums neuere Phase:
Der Zopf, der ehmals hinten hing,
Der hängt jetzt unter der Nase.“

Das Buch wurde nicht nur verboten, sondern es wurde auch ein preußischer Haftbefehl gegen Heinrich Heine erlassen. Heine legt dem muslimischen Titelhelden des Almansor schon viel früher, nämlich 1823, folgende Worte in den Mund:

„Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“,

was nun leider mindestens im doppelten Sinn als prophetisch bezeichnet werden muss. Man sieht: Lesen zählt und ist offenbar so gefährlich, dass es um jeden Preis verhindert werden muss, auch in der Gegenwart, wenn man an antimodernistische, sexistische und sadistische Eiferer wie die Taliban denkt, und zwar insbesondere das von Frauen. „Frauen lesen anders“, das ist wiederum eine von Ruth Klügers Beobachtungen, die sie im gleichnamigen Sammelband expliziert:

„Ich ärgere mich leichter als männliche Leser über die Trivialisierung und Stereotypisierung von Frauen, kein Wunder. Ich vermute, daß dahinter nicht nur eine gutgemeinte Verkennung meinesgleichen steckt, sondern auch gewisse Hoheitsansprüche, die mit Nationalismus und Herrenmenschentum zu tun haben.“

Ob Frauen Texte im allgemeinen so anders interpretieren als Männer, von Trans-, Inter- oder Divers-Gender-Diskursen einmal abgesehen, weiß ich nicht, ich denke, die Hinterfragung patriarchaler und auch sozial und standesbedingter hierarchischer Strukturen und deren Niederschlags in der Literatur, denn um die geht es Ruth Klüger in diesen Texten, müsste wenigstens theoretisch Menschen jederlei Geschlechts möglich sein. Aber da kommt wieder die Frage der Verallgemeinerung des „Eigenen“, nun in der Form der Abstraktionsfähigkeit davon, ins Spiel. Ihre These bestätigt sich für mich jedenfalls angesichts der Rezeptionsgeschichte der – vom später aus Deutschland vertriebenen Antiromantiker Heinrich Heine, einfach oder eindeutig ist wenig – als höchst romantischer deutscher Mythos gestalteten „Lore Ley“ nach dem kurz davor verfassten Kunstmärchen Clemens Brentanos. Das „Märchen aus uralten Zeiten“, das eben erst behauptet worden war und in der touristischen Zukunft Deutschlands so wirkmächtig sein würde, ist ein Gedicht, das eines der eindrücklichsten narrativen Bilder aus meiner eigenen Kindheit am Rhein konstituiert und gleichzeitig das Zerrbild der männerverschlingenden, in ihrer physischen Schönheit unerreichbaren Frau: eine ironische Grundhaltung Heines hineinlesen zu wollen, wie das manchmal geschieht, erscheint mir ein wenig fragwürdig. Der Loreleyfelsen markiert eine Schleife im Flussverlauf, die in früheren Jahrhunderten aufgrund ihrer Untiefen und Stromschnellen als äußerst gefährlich und todbringend galt – dass der naturbedingte Untergang schifffahrender Männer wieder einer Frauenfigur angelastet wurde, war zumindest irritierend: die so offenkundig weiblich konnotierte Natur musste also „bezwungen“, wenn schon nicht „errungen“ werden, was im völlig eingekesselten, in weiten Bereichen in ein Betonbett gezwungenen Flussverlauf des Rheins der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine technikgläubige Entsprechung fand. Erst durch die immer häufigeren Überflutungen der jüngeren Vergangenheit bedingt wurden viele der Verbauungen hinterfragt und manche sogar zurückgebaut.

Apropos Ästhetisierungen: Ruth Klüger sieht sich als Rezeptorin von kunsttheoretischen Überlegungen zum “Raub der Sabinerinnen“ in verschiedenen Kunstgalerien dieser Welt immer wieder durch einem Ästhetizismus vor den Kopf gestoßen, der das Offensichtliche leugnet:

„Wir blicken auf einen Gewaltakt … Ich höre zu, ich schaue hin, und ich frage mich betreten: Warum sagt niemand etwas zum Inhalt? … Als Frauen stehen wir vor diesem Prunk und dieser Pracht, wo unseresgleichen zu Gegenständen erniedrigt wird, und verdrängen unsere Beklemmung, um unser Kunstverständnis nicht zu kompromittieren .. Manchmal sind die Opfer so gemalt, daß sie ihre Erniedrigung zu genießen scheinen, eine Übertünchung, die die Sache noch verschlimmert.“

Eine systematische Gewalttätigkeit und innewohnende Heuchelei, die übrigens auch Loriot in seinem Sketch „Eheberatung“ 1977 aufs Korn nahm. Aus der Literaturrezeption nennt sie ebenfalls Beispiele, etwa George Tabori, der „Woyzeck“ und „Othello“ als die schönsten Liebesgeschichten bezeichnete, oder Marcel Reich-Ranicki, der Ähnliches über die „Liebesgeschichte“ und „Kabale und Liebe“ formulierte, alles Texte, in denen der Geliebte die Geliebte tötet. Dies ist vor allem auch eine Frage der Kanonisierung bzw. davon, was als kanonisierenswert gilt, und dieses Feld war sicherlich jahrhundertelang durch einen männlichen Blick geprägt … Vom „Heideröslein“, das klar eine Vergewaltigung beschreibt, ebenso wie der „Erlkönig“, möchte ich hinzufügen, ganz zu schweigen, und ja, beide Vertonungen interpretierte meine Mutter regelmäßig zum Klavierspiel meines Vaters, die Verstörung über die Überhöhung der Gewalt, deren Implikationen ich erst allmählich zu verstehen lernte und deren so ohrenschmeichelnde Darstellung ich als Kind nur als Billigung lesen konnte (nicht dass das heute anders wäre), inspirierte mich unter anderem zu meinem ersten Roman. Nicht nur dazu.

Dass einen oder eine die erlittene Gewalt niemals wirklich verlässt, beschreibt Ruth Klüger so:

„Und so gestehe ich mir ein, daß mein Alter in einer Art Niemandsland stattfindet. Das Elend von damals ist nur vorbei für die, die damals daran zugrunde gingen, sonst nicht, es erzeugt Nachwuchs …“

Ruth Klüger schreibt nicht nur lakonisch und treffsicher über ihre eigenen Gewalterfahrungen unter der Nazidiktatur und vor allem auch über das Überleben derselben nach der Flucht vom Todesmarsch, sie liest und interpretiert, und es lohnt wiederum außerordentlich, sie zu lesen: Übrigens greift sie auf das Bild der Möbiusschleife zurück, um die Behauptung einer „wirklichen“ Wirklichkeit im Gegensatz zu einer fiktionalen, also der in der Literatur kondensierten, ad absurdum zu führen, was mich als gelernte Physikerin ganz besonders freut, „natürlich“, möchte ich hinzufügen, wenn das nicht schon wieder so eine aufgedoppelte Wirklichkeitskonstruktion wäre.

 

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